08.12.2018 01:30
„Das Modell Elitendemokratie ist
historisch verheerend gescheitert“
Herrschaft und Macht zu verschleiern, darum geht es in den demokratischen
Systemen unserer Zeit. Zu diesem Ergebnis kommt
Rainer Mausfeld bei seiner Auseinandersetzung mit Politik und Medien. Die
Geschichte habe immer wieder bewiesen, wie real eine unersättliche Gier nach
Macht sei, eine Tatsache, die auch heute gelte. Deshalb, so Mausfeld, müsse man
auch in unserer gegenwärtigen politischen Situation Macht genau betrachten. [Quelle:
nds.de] JWD
Von Marcus Klöckner | nachdenkseiten.de |
03. Dezember 2018
Screenshot (Archive)
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Streng geht Mausfeld mit den Medien ins Gericht. Zwar existiere durchaus ein
kritischer politischer Journalismus, allerdings finde dieser dort seine Grenzen,
wo die große Weltpolitik stattfinde. „Wenn es um Themen geht, die die Stabilität
der Machtzentren gefährden könnten, wird erkennbar, wie tief die Medien in
ökonomische und politische Machtstrukturen eingebunden sind“, so Mausfeld. Ein
Interview über Schein und Sein der politischen Verhältnisse.
Herr Mausfeld, bei der Auseinandersetzung
mit Ihrem Buch fällt auf, dass immer wieder die Begriffe „Herrschaft“,
„Herrschaftsstrukturen“ oder „Macht“ auftauchen. In den Medien finden sich diese
Begriffe, wenn es um Deutschland geht, hingegen eher selten. Oder?
Das ist eine interessante Beobachtung. Die Kernkategorie alles Politischen,
nämlich Macht, kommt in politischen Diskussionen der Leitmedien so gut wie gar
nicht vor. Und wenn, dann nur auf eine ziemlich oberflächliche Weise. Über
Herrschaft und Macht redet man im Zusammenhang mit unserer Demokratie bzw.
unserem „Herrschaftssystem“ einfach nicht mehr. Es soll wohl der Eindruck
entstehen, außerhalb des Volkes gäbe es keine Zentren politischer Macht. Also
brauchen wir auch nicht darüber zu reden. Dabei ist es in unserer gegenwärtigen
politischen Situation besonders wichtig, Macht genau zu betrachten.
Was bedeutet denn Macht?
Macht heißt, dass jemand die Möglichkeit hat, seine Interessen gegen andere
durchsetzen zu können und Entscheidungen zu treffen, die ihm zu Gute kommen. Wer
Macht hat, kann durchsetzen, was zu seinem Vorteil ist. Macht über andere zu
haben bedeutet, andere dem eigenen Willen unterwerfen zu können. Noch einmal:
Macht ist die Kernkategorie des Politischen. Und deswegen ist es eigenartig und
bemerkenswert, wenn Medien nicht mehr über Macht und Herrschaft reden. Das wäre
so, als würde man in einer Akademie für Fische nicht über Wasser reden.
Auf jeden Fall zeigt die Geschichte, dass das Streben nach Macht dazu neigt,
unersättlich zu sein. Diese Gier führt uns zu den dunklen Seiten des Menschen,
und sie hat im Laufe der Zivilisationsgeschichte gigantische Blutspuren
hervorgebracht. In der Zivilisationsentwicklung ging es deshalb darum, Wege zu
finden, wie man Macht einhegen kann. Die zentrale Frage lautete und lautet: Wie
kann man verhindern, dass eine Gesellschaft so organisiert ist, dass der
Stärkere den Schwächeren seinem Willen unterwirft?
Und dabei kommt die Demokratie ins Spiel.
Ja. Wir alle haben ein natürliches Freiheitsbedürfnis. Wir haben einen
Widerwillen gegen Zwang. Wir wollen uns nicht dem Willen eines anderen
unterwerfen. Dieses Bedürfnis ist die erste Quelle in der
Zivilisationsgeschichte, aus der die Demokratie entstanden ist.
Die zweite Quelle ist das Bemühen, den Frieden zu sichern – und zwar den Frieden
innerhalb der Nationen, also den sozialen Frieden, sowie den Frieden zwischen
den Nationen. Innenpolitisch führt das zur Idee der Demokratie, außenpolitisch
zur Idee eines Völkerrechts. Es ging bei diesen Bemühungen stets darum,
unterschiedliche Meinungen und Interessen auf friedlichem Weg in Einklang zu
bringen.
Das Problem ist, dass diejenigen, die Macht haben, kein Interesse daran haben,
ihre Macht abzugeben oder mit jemandem zu teilen.
Das ist im Grunde genommen eine ziemlich banale Erkenntnis.
Das ist in der Tat eine ganz banale und offenkundige Einsicht in das Wesen von
Macht – zumindest für diejenigen, die nicht ideologisch vernebelt sind.
Weiter mit Ihren Gedanken zur Demokratie.
Die Lehre aus den Blutspuren der Zivilisationsgeschichte war immer wieder, zu
versuchen, Macht einzuhegen.
Nur: Warum sollten die Mächtigen sich überhaupt darauf einlassen, ihre Macht
begrenzen zu lassen oder zu teilen? Sie können ja schließlich ihre Macht auch
mit physischer Gewalt durchsetzen. Dies ist jedoch mit beträchtlichen Kosten
verbunden, so dass man auf eine wirkungsvollere Idee kam. Angesichts unseres
natürlichen Bedürfnisses nach Freiheit und Selbstbestimmung und dem daraus
resultierenden Druck des Volkes gab man diesem schließlich die Demokratie.
Genauer jedoch: Man gab ihm etwas, das oberflächlich und dem Namen nach so
aussieht, jedoch so beschaffen ist, dass es den Status und die Interessen
herrschender Gruppierungen nicht beeinträchtigt. Die so entstandene Form einer
sogenannten Elitendemokratie hat den Vorteil, dass sie Macht und Herrschaft
verschleiert und am Ende die Bürger glauben, ihre Wahlentscheidungen seien für
die gegenwärtige gesellschaftliche Situation verantwortlich, schließlich haben
sie die Regierenden ja selbst gewählt.
Wie gestaltet sich nun die Realität?
Unsere politischen Alltagserfahrungen zeigen zur Genüge, dass die Realität weit
von der offiziellen Demokratierhetorik abweicht. Dieses subjektive Erleben hat
auch ein solides objektives empirisches Fundament in Erhebungen der
Politikwissenschaft – insbesondere die
Princeton-Studie der Politologen Martin Gilens und Benjamin Page aus dem
Jahr 2014.
Sie hat zum Vorschein gebracht, dass das durchschnittliche Stimmgewicht eines
US-amerikanischen Wählers auf politische Entscheidungen praktisch bei null
liegt. Das heißt: Es lässt sich in quantitativen empirischen Studien zeigen, wie
illusionär in unseren kapitalistischen Elitendemokratien die Vorstellung von
echter Demokratie ist. Aus diesem eindeutigen Befund müssen wir endlich
angemessene Schlussfolgerungen ziehen, denn immer wieder wird behauptet, dass
die Meinung der Bürger, im Einklang mit demokratischen Prinzipien, ein
wesentliches Gewicht bei grundlegenden politischen Entscheidungen hätte.
Die Strukturen, mit denen wir es zu tun haben, sind jedoch so gebaut, dass die
politischen Präferenzen normaler Bürger nicht in die tatsächlichen
Entscheidungsprozesse eingehen. Auch bei uns lässt sich das bei einem Vergleich
dieser Entscheidungen mit den in Umfragen erhobenen Präferenzen erkennen. Die
politischen Präferenzen der Bürger liegen meist weit links von denen der
Regierung. Auslandseinsatz der Bundeswehr? Beziehungen zu Russland? Krieg?
Soziale Gerechtigkeit? In zentralen Fragen stellen Volksvertreter und Exekutive
oft ganz anders die Weichen, als die Bürger es mehrheitlich wünschen. Faktisch
haben also die Bürger, das war ja gerade die Leitidee einer Elitendemokratie,
keinen Einfluss, sie sind politisch entmachtet. Wolfgang Schäuble sagte einmal,
Wahlen dürften den wirtschaftspolitischen Kurs nicht ändern. Er bringt damit
offen zum Ausdruck, wo die tatsächliche Grenze des Einflusses liegt, den Bürger
haben.
Natürlich könnten die strukturellen demokratischen Elemente, die in unserem
politischen System enthalten sind und in der Tat wichtige demokratische Elemente
erkennen lassen, wie etwa Wahlen, durchaus zu einer Re-Demokratisierung genutzt
werden. Aber: Derzeit werden diese Elemente neutralisiert und können sich nicht
im Sinne einer Demokratisierung der Demokratie entfalten.
Welche Rolle spielen die Medien in diesem System?
Die Leitmedien spielen bei politisch relevanten Themen überwiegend die Rolle,
die Herolde früher bei Hofe gespielt haben.
Das ist eine ziemlich harte Aussage.
Natürlich gibt es Ausnahmen, doch sind viele Journalisten so sehr mit den
Machtstrukturen identifiziert, dass sie gleichsam als deren Boten agieren. Wenn
wir auf die Medien blicken, ist die Situation ähnlich wie bei der Demokratie. Es
gibt den Anschein, dass Medien die vierte Säule der Demokratie sind, aber dieser
Anschein täuscht über die Realität hinweg. Tatsächlich sind sie in ökonomische
und politische Machtstrukturen eingebunden und damit Teil der Kräfte, die
demokratische Strukturen zu unterminieren suchen. Das alles ist seit langem
bekannt und empirisch gut belegt.
Es gibt doch durchaus einen kritischen politischen
Journalismus. Journalisten decken Missstände auf, Medien legen sich mit
Politikern an.
Das ist überwiegend ein Trugbild. Man muss nur hartnäckig genug die Oberfläche
durchdringen, um dieses Trugbild zu erkennen. Ich will natürlich nicht
bestreiten, dass es einen kritischen Journalismus gibt und Journalisten
Skandale, auch politische, aufdecken. Aber auch bei diesen journalistischen
Glanzleistungen gilt es dennoch, genauer hinzuschauen. Bei allen Fragen, die
nicht von hoher politischer Relevanz sind, dürfen Journalisten sich in der Regel
austoben und kritisch sein, so viel sie wollen. Aber wenn es um Themen geht, die
die Stabilität der Machtzentren gefährden könnten, wird erkennbar, wie tief die
Medien in ökonomische und politische Machtstrukturen eingebunden sind. Ob es um
die Ukraine, um Russland, um Syrien oder die NATO geht: das ist für Journalisten
und Medien vermintes Terrain.
Wer als Journalist bei einer großen Zeitung
arbeitet und bei Themen wie diesen von der vorherrschenden Sicht – also der
Sicht der Herrschenden – abweicht, wird große Probleme bekommen. Um ein Beispiel
anzuführen: Die New York Times hat vor einiger Zeit einen
großen Bericht darüber gebracht, an wie vielen Morden die US-Special Forces
beteiligt waren und wie brutal sie vorgegangen sind. Der Bericht wurde oft als
Musterbeispiel zelebriert, das deutlich mache, wie offen und schonungslos in der
freiesten Presse der Welt Missstände aufgezeigt würden. Die Botschaft war klar:
Für eine grundsätzliche Kritik an der Rolle unserer Medien gibt es eigentlich
keinen Anlass.
Nur: Diese Verbrechen wurden von der New York Times in einer solchen Weise
berichtet und in einen solchen Kontext eingebunden, dass sie die eigentlichen
politischen Verantwortlichkeiten verdeckt haben.
Konkret, was wurde verdeckt? Wie meinen Sie das?
Es ging bei dem New-York-Times-Bericht konkret um die verdeckten
Mord-Operationen der Special Forces, insbesondere des geheimnisumwobenen SEAL
Team 5, das auch Osama bin Laden ermordete. Die US-Special Forces, die über
einen Jahresetat von vielen Milliarden Dollar verfügen, führten, dem Bericht
zufolge, überall auf der Welt verdeckte Operationen durch – auch undercover in
Rollen als zivile Mitarbeiter. Mittlerweile seien sie zu einer „global
manhunting machine“, einer Menschenjagd-Maschine, geworden. Nun ist natürlich
verständlich, dass man im Kampf gegen das Böse nicht darauf verzichten kann,
auch gelegentlich die zivilisatorischen Samthandschuhe auszuziehen. Leider
hätten die Special Forces dabei jedoch etwas über die Stränge geschlagen und
„Schlachtfeste an Zivilisten“ durchgeführt. Mit einer solchen interpretativen
Einbettung derartig systematisch durchgeführter Morde verdeckt die New York
Times nicht nur die politischen Verantwortlichkeiten, sondern sie verdeckt auch
die historischen Kontinuitäten, indem sie die berichteten Morde als bedauerliche
Einzelfälle erscheinen lässt.
Wie meinen Sie das?
Insgesamt wird der Eindruck erzeugt, dass die Medien ihrer kritischen Rolle als
Kontrolleure der Macht gerecht geworden seien. Schließlich haben sie ja über
diese schrecklichen Ausnahmeexzesse offen berichtet, doch dürfe man natürlich
von solchen Ausnahmefällen nicht darauf schließen, dass die entsprechenden
staatlichen Apparate nicht von noblen Absichten getragen seien. Kurz: Trotz
solcher scheußlicher und bedauerlicher Einzelfälle stehe im Grund politisch
alles bestens.
Das heißt: Das Blatt berichtet zwar journalistisch kritisch
über einen großen Skandal, zeigt auf, legt dar, aber die Kritik bewegt sich nur
an der Oberfläche, weil die politisch Verantwortlichen nicht in den Vordergrund
gerückt werden?
Ja, das ist der Punkt. Eine solche Form der Kritik fördert die gedankliche
Fragmentierung, weil sie die Vorgänge aus ihrem eigentlichen Sinnzusammenhang
löst. Sie blockiert geradezu unsere Möglichkeiten, angemessene
Schlussfolgerungen aus den berichteten Vorgängen zu ziehen. Nach einer kurzen
öffentlichen Empörung ist dann auch alles schnell wieder vergessen. Bis zum
nächsten bedauerlichen Einzelfall. Mit der Einzelfallrhetorik wird ein
Interpretationsrahmen angeboten, der die eigentlich politisch Verantwortlichen
gerade verbirgt.
Im Übrigen machte sich die New York Times auch das Argument zu eigen, dass
ähnlich wie Drohnenmorde auch die verdeckten Operationen der Special Forces eine
sehr effiziente Alternative zu kostspieligen Kriegen seien. Um wirksam zu sein,
brauche man dazu nun einmal ein Bollwerk der Geheimhaltung um derartige
Mordoperationen. Die New York Times bekräftigt damit die Kultur der
Verantwortungslosigkeit, die bereits weite Bereiche der Staatsapparate
durchzieht – und der Wirtschaft ohnehin. Die strukturell systematisch erzeugten
Formen einer Verantwortungsdiffusion entziehen also weite Bereiche unserer
Gesellschaft grundsätzlich jeder demokratischen Kontrolle.
Welche Möglichkeiten haben denn die Bürger, um die Demokratie
zu stärken?
Das ist in der Tat eine entscheidende Frage, denn Demokratie muss von unten
errungen und kontinuierlich erhalten werden. Eine konkrete Antwort auf diese
Frage zu geben, ist schwierig und banal zugleich. Denn natürlich hat jeder von
uns in seinem sozialen Lebensbereich eine Vielzahl von Möglichkeiten, einen
Beitrag hierzu zu leisten. Zugleich wächst das Gefühl, dass unter den
gegenwärtigen Organisationsformen der Macht Veränderungsenergien nicht mehr nach
oben wirksam werden, es wächst also ein Gefühl der Aussichtslosigkeit. Dieses
Gefühl gezielt zu fördern, war und ist bekanntlich seit jeher ein wichtiger
Bestandteil eines Demokratiemanagements. Wir müssen uns also damit
auseinandersetzen. Das wird gerade unter den Bedingungen der neoliberalen
Globalisierung nicht einfach sein. Und es kann dafür keine allgemeinen einfachen
Rezepte geben. Zwar könnte man hier auf Antonio Gramscis Bemerkung verweisen,
dass uns auch bei einem Pessimismus des Intellekts der Optimismus des Willens
bleibt. Leider hilft das jedoch auch nicht sonderlich, eine konkrete Antwort auf
Ihre Frage zu geben. Es hilft jedoch, den Blick darauf zu lenken, dass so oder
so die Zukunft unserer Gesellschaft von uns abhängt, von unserer Duldung und
unserem Schweigen oder aber von unserem Veränderungswillen.
Ihr Buch zeigt ein Lamm auf dem Titel, das zusammengebunden
ist. Warum dieses Bild?
Das Lamm symbolisierte schon in der alten jüdischen Tradition das Tier, das vor
seinen Scherern verstummt. Allgemeiner symbolisierte es Unschuld und
Ahnungslosigkeit gegenüber bösen Absichten. Im Bereich des politischen Denkens
kam, vor allem in der griechischen Tradition, noch die Metapher von Herde und
Hirte hinzu. Das Buchcover zeigt ein Bild des spanischen Barockmalers Francisco
de Zurbarán. In einem politischen Kontext aktiviert das gefesselte Lamm beim
Betrachter vermutlich weitverbreitete Gefühle einer politischen Ohnmacht und
eines Ausgeliefertseins – Gefühle, die auch mir gegenüber immer wieder in
Gesprächen und Diskussionen zu meinen Vorträgen artikuliert werden. Viele
Menschen haben das Gefühl, dass die Politik der neoliberalen Alternativlosigkeit
sie und nachfolgende Generationen um ihre Zukunftsplanung betrogen hat. Die
neoliberale Transformation der Gesellschaft mit ihrer Ideologie des ‚flexiblen
Menschen‘, der seine Fremdverwertbarkeit durch den Markt zu optimieren habe, hat
eine tiefe Verunsicherung in der Gesellschaft hervorgebracht. Eine
Verunsicherung und soziale Ängste, die – wie vielfach aufgezeigt wurde – gezielt
und systematisch erzeugt wurden.
Die Planungssicherheit ist bei vielen Menschen unter dem
Neoliberalismus verlorengegangen.
Absolut, nicht zu vergessen die Erhöhung beruflicher Unsicherheit, die Schaffung
sozialer Verhältnisse, unter denen viele nicht mehr wissen, wie lange sie sich
noch ihre Wohnung leisten können und vieles andere mehr hat natürlich eine
massive Auswirkung auf das politische Verhalten und auf die Bereitschaft zu
einer politischen Partizipation der Bürger. Soziale Ängste engen den Denkraum
auf die Dinge ein, die zur Sicherung der eigenen Existenz notwendig sind.
Sie meinen also, dass unter den gegebenen Umständen viele Bürger einfach gar
nicht mehr den Kopf haben, um sich politisch zu engagieren?
Für politische Fragen des Gemeinwohls und damit für Demokratie lässt für viele
die gegenwärtige Realität keinen Platz. Im Gegenteil: Abstiegsängste, Gefühle
eines sozialen Kontrollverlustes, Ängste, die mit Gefühlen eines
Identitätsverlustes und ähnlichem verbunden sind, lassen die Bereitschaft
wachsen, Gefühle der Ohnmacht in dunklen menschlichen Kanälen rassistischer und
nationalistischer Ressentiments zu entladen. Das Aufblühen des Rechtspopulismus
ist also eine direkte Folge der vorhergegangenen Jahrzehnte neoliberaler Politik
und Alternativlosigkeit. Zugleich sucht nun die neoliberale ‚Mitte‘ den von ihr
beförderten Rechtspopulismus für eine weitere Angsterzeugung zu nutzen, um sich
durch eine solche Drohkulisse bei Wahlen zu stabilisieren.
Die systematische Erzeugung von Angst ist ja seit jeher ein wichtiges
Herrschaftsinstrument.
Ihre Ausführungen lassen wohl keinen optimistischen Ausblick
zu, oder?
Ein realitätsleerer Optimismus mag sich gut anfühlen, kann uns hier jedoch nicht
helfen. Gesellschaftlicher Optimismus muss auf Einsicht in die politische
Realität gegründet sein und mit einem ernsthaften Veränderungswillen
einhergehen. Jedenfalls wird es nicht einfach, diesen Zirkel und die mit ihm
verbundenen Ohnmachtsgefühle zu durchbrechen. Historisch waren es häufig gerade
zivilisatorische Katastrophen, die die Bereitschaft erhöhten, Macht und ihre
Exzesse einzuhegen und grundlegende Änderungen der Gesellschaftsorganisation
durchzuführen. Diese Möglichkeit, zur Vernunft zu kommen, ist uns heute wohl
versperrt, denn der nächste große Krieg wird vermutlich der letzte sein. Wir
müssen uns also auf anderen Wegen zu der Einsicht durchringen, dass das
ideologische Modell, auf dem unsere gesellschaftliche Macht- und Gewaltordnung
basiert, mindestens genauso gescheitert ist wie das ideologische Modell der
damaligen Sowjetunion.
Wir haben jetzt seit über 50, ja 100 Jahren eine
kapitalistische Elitendemokratie, deren zerstörerische Wirkungen in unserer
Gesellschaft und auf dem Planeten mehr und mehr zutage treten. Immer mehr Bürger
erkennen oder erahnen dies, andere können oder wollen es nicht sehen und suchen,
apathisch oder trotzig, ihren Status quo zu retten, wie mancher Passagier auf
der Titanic. Das Modell Elitendemokratie ist jedenfalls, daran kann bei
nüchterner Betrachtung wohl kein Zweifel bestehen, in verheerendem Maße
historisch gescheitert. Diese Einsicht wird interessanterweise offensichtlich
auch von den gegenwärtigen politischen und ökonomischen Zentren der Macht
geteilt. Nur dass sie daraus entgegengesetzte Konsequenzen ziehen: Sie
verzichten nämlich zunehmend vollends auf eine Demokratierhetorik und bedienen
sich lieber einer Sicherheits- und Stabilitätsrhetorik, mit dem Ziel, die Bürger
zu einer weiteren Selbstentmündigung zu verleiten, sodass die Widerstände gegen
die Errichtung eines autoritären Präventions- und Sicherheitsstaats möglichst
gering sind.
Wir stehen also gegenwärtig, was die Gestaltung unserer Gesellschaft angeht und
was unsere Zukunft allgemein betrifft, an mehrfachen Scheidewegen:
gesellschaftlich, hinsichtlich einer Friedenssicherung sowie ökologisch. In
solchen Situationen stellt auch ein Nichthandeln bereits eine Entscheidung dar.
Für unser Nichthandeln tragen wir in gleicher Weise Verantwortung wie für unser
Handeln. Wie die Zukunft aussehen wird, liegt also in unserer Hand.
Möglichkeiten zum politischen Handeln gibt es genug. Wir müssen uns nur
entschließen, sie zu ergreifen.
02.12.2018 [SWR Teleakademie] Prof. Dr. Rainer Mausfeld – Elitendemokratie und
Meinungsmanagement
Hat sich die Vorstellung vom “mündigen Bürger” überlebt? Die Idee der Demokratie
entsprang aus der Bemühung, eine gesellschaftliche Organisationsform zu finden,
die am ehesten einen inneren (und äußeren) Frieden gewährleistet.
Quelle:
SWR
Teleakademie
Quelle: Paul Schreyer |
veröffentlicht 03.12.2018
Rainer Mausfeld: Elitendemokratie und
Meinungsmanagement
(SWR 2018)
Zitat Prof. Mausfeld
[transkribiert von Paul Schreyer] :
“Solange bei der Unterrichtung der Öffentlichkeit Geheimhaltung,
Parteilichkeit, Vorurteile, Falschdarstellungen, Propaganda und schiere
Ignoranz überwiegen, gibt es keine Möglichkeit, die politische
Intelligenz der Massen zu beurteilen.” […] “Unsere vordringliche Aufgabe
besteht darin, die systematisch herbeigeführte Degeneration des
öffentlichen Debattenraumes rückgängig zu machen – dazu kann jeder etwas
beitragen – und auf diese Weise den Möglichkeitsraum von Handlungs- und
Denkoptionen zu weiten und einer wirklichen Demokratie eine Chance zu
geben.”