27.02.2016 00:00
Soziale Kälte und solidarisches
Miteinander: Das geht nicht zusammen
Rede von Sahra Wagenknecht in der Debatte des Bundestages am 17.02.2016 über die
Regierungserklärung zum bevorstehenden EU-Gipfel. [Quelle:
sahra-wagenknecht.de]
JWD
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, zumindest diejenigen, die
im Raum bleiben! Frau Bundeskanzlerin, ich denke, gerade in der aktuellen
spannungsgeladenen Weltlage wäre es wichtig, ein einiges und handlungsfähiges
Europa zu haben. In diesem Sinne hielten wir auch Ihre Bemühungen um eine
europäische Lösung der Flüchtlingsproblematik für richtig. Aber wie ich gehört
habe - das ist ja angesichts der ganz breiten Koalition der Unwilligen nicht
erstaunlich -, haben Sie dieses Anliegen aufgegeben.
Aber nicht nur in der Flüchtlingskrise, sondern auch in vielen anderen Fragen
ist die EU ja inzwischen geradezu zu einem Synonym für Zwietracht, Krise und
Verfall geworden. Dafür trägt auch die deutsche Regierung eine Mitverantwortung.
(Beifall bei der LINKEN)
Der europäische Scherbenhaufen ist zum einen der Scherbenhaufen neoliberaler
Verträge sowie undemokratischer und konzerngesteuerter Technokratie, zum anderen
aber auch der Scherbenhaufen einer Arroganz, die, wie Herr Kauder das einmal so
unnachahmlich formuliert hat, ganz Europa deutsch sprechen lassen wollte. Ich
glaube, wer ernsthaft gedacht hat, Europa ließe sich von Berlin aus regieren,
der darf sich nicht wundern, wenn ihm jetzt selbst der Wind ins Gesicht bläst.
(Beifall bei der LINKEN)
Es gab eine Zeit, in der die große Mehrheit der Europäer mit der europäischen
Einigung die Hoffnung auf Wohlstand, Frieden und soziale Sicherheit verbunden
hat. Die heutige EU ist aber vor allem eine EU der wirtschaftlich Mächtigen und
der Reichen. Wer die Schuldenbremse verletzt, der bekommt blaue Briefe aus
Brüssel. Eine Armutsbremse oder eine Obergrenze für Jugendarbeitslosigkeit, die
zum Handeln verpflichten würde, gibt es aber nicht. Im Gegenteil: Wenn eine
Regierung, wie die portugiesische oder im letzten Jahr die griechische, auch nur
ein bisschen etwas daran ändern will, dass in ihrem Land so viele Menschen in
Armut leben, dann gibt es eine harsche Intervention aus Brüssel. Einige andere
Länder hingegen, die alles daransetzen, Konzernen lukrative Steuersparmodelle
anzubieten, die woanders die Steuereinnahmen wegschmelzen lassen, werden mit
politischen Spitzenposten für ihr Personal auf Brüsseler Ebene geadelt.
Fast ein Viertel aller EU-Bürger lebt inzwischen in Armut, während sich die Zahl
der europäischen Milliardäre seit Beginn der Krise mehr als verdoppelt hat. Ich
muss Sie fragen: Da wundern Sie sich, dass sich immer mehr Menschen von einem
solchen Europa abwenden,
(Beifall bei der LINKEN)
dass das Gefühl um sich greift, sie könnten wählen, wen sie wollen, und am Ende
kommt in diesem Europa doch immer nur die gleiche neoliberale Politik heraus? Da
wundern Sie sich, dass unter solchen Bedingungen nationalistische Parteien immer
mehr Zulauf haben? Wir finden das erschreckend, aber erstaunlich finden wir das
nicht.
(Beifall bei der LINKEN)
Auch die Briten, die gegen die EU sind - das zeigen ja Umfragen -, machen sich
vor allem Sorgen um die sozialen Folgen von Zuwanderung, um Lohndumping und um
Wohnungsmangel. Deswegen ist es völlig absurd, dass Herr Cameron als
Voraussetzung für den Verbleib Großbritanniens jetzt ausgerechnet weiteren
Sozialabbau und Narrenfreiheit für den Finanzplatz London verlangt. Noch
absurder wäre es, solchen Forderungen nachzugeben. So etwas stabilisiert die EU
nicht, sondern zerlegt sie nur immer weiter.
(Beifall bei der LINKEN)
Da man inzwischen schon Referenden machen muss, um in der EU etwas zu erreichen,
frage ich mich: Warum werden eigentlich nicht alle Menschen in der EU gefragt?
Warum fragen Sie die Bevölkerung in Deutschland nicht, was sie von den
neoliberalen Verträgen hält?
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Es spricht einiges dafür, dass auch bei uns immer weniger in einer
marktkonformen Demokratie leben möchten, in der Arbeitnehmer gegeneinander
ausgespielt werden und die soziale Ungleichheit immer größer wird.
Ein demokratiekonformes Europa, das den Sozialstaat nicht abbaut, sondern
absichert, wäre ein Projekt, das die Menschen wieder für die europäische Idee
begeistern könnte.
(Beifall bei der LINKEN)
Wenn Sie nicht wollen, dass Europa völlig in Nationalismus zerfällt, dann ändern
Sie Ihre Politik und schaffen Sie ein soziales und demokratisches Europa. Das
ist die einzige Chance dafür, dass dieses Europa überlebt. Sonst gibt es doch
keine.
(Beifall bei der LINKEN)
Gerade auch außenpolitisch brauchen wir Handlungsfähigkeit. Frau Merkel, Sie
seien erschrocken und entsetzt über das menschliche Leid, das durch die
Bombenangriffe entstanden ist. Das haben Sie angesichts der russischen
Luftangriffe auf Aleppo gesagt.
(Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Stimmt das denn? Sehen
Sie das auch so?)
Ich stimme Ihnen zu: Was sich in und um Aleppo abspielt, ist brutal und
barbarisch.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Die Luftangriffe, die Kämpfe und das Blutvergießen müssen endlich gestoppt
werden - ganz klar und so schnell wie möglich.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir finden es aber schon erstaunlich, dass sich Ihr Entsetzen über die Gräuel
und die Barbarei von Kriegen nur dann Bahn bricht, wenn russische Maschinen ihre
Bomben abwerfen.
(Unruhe bei der SPD)
Glauben Sie wirklich, dass das Sterben unter amerikanischen, britischen oder
französischen Bomben mit Unterstützung deutscher Tornados weniger leidvoll ist?
(Beifall bei der LINKEN)
Mindestens 1,3 Millionen Menschenleben - überwiegend Zivilisten - haben die
sogenannten Antiterrorkriege des Westens, die in Wahrheit immer Kriege um
Rohstoffe und Absatzmärkte waren, allein in den letzten anderthalb Jahrzehnten
ausgelöscht; Kriege, an denen Deutschland indirekt oder direkt immer beteiligt
war; Kriege, mit denen deutsche Waffenschmieden glänzende Geschäfte gemacht
haben. 1,3 Millionen Tote, ungezählte Millionen Verletzte und aus ihrer Heimat
Vertriebene - ich frage Sie, Frau Merkel: Wo war da Ihr Entsetzen? Vor allen
Dingen: Wo sind die Konsequenzen, die Sie daraus ziehen?
(Beifall bei der LINKEN)
Auch wir wissen, dass es in der Außenpolitik unvermeidlich ist, auch mit
unangenehmen Regimen zu reden. Aber es gibt doch einen Unterschied zwischen
Reden und Hofieren. Sie haben gerade wieder über die Bekämpfung von
Fluchtursachen gesprochen. Sie haben über die Gefahren des Terrorismus
gesprochen. Und da wählen Sie als Ihren bevorzugten Partner zur Lösung der
Flüchtlingskrise ausgerechnet den Terrorpaten Erdogan,
(Beifall bei der LINKEN)
der mit seiner blutigen Politik gegen die Kurden im eigenen Land und mit seiner
Unterstützung von islamistischen Terrorbanden in Syrien geradezu eine
personifizierte Fluchtursache ist. Das ist doch völlig irrational.
(Beifall bei der LINKEN)
Die Verwandlung der Türkei in ein Flüchtlingsgefängnis unter Oberaufseher
Erdogan, der Europa grenzenlos erpressen kann, weil er den Schlüssel zu diesem
Gefängnis immer in der Tasche behält,
(Ingo Gädechens (CDU/CSU): Immer jammern, aber selber keine
Lösung haben!)
das ist doch keine Lösung, sondern eine moralische Bankrotterklärung.
(Beifall bei der LINKEN - Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU): Sie
haben keine Lösung!)
Inzwischen bombardiert die Türkei rücksichtslos auch syrische Kurden, die zu den
entschlossensten Kämpfern gegen den „Islamischen Staat“ gehören. Der Chef der
Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger - weiß Gott kein Freund der
Linken -, spricht von der „gefährlichsten Weltlage seit dem Ende des Kalten
Krieges“ und warnt vor der Gefahr eines nuklearen Konflikts. Und Sie üben den
türkisch-deutschen Schulterschluss. Wollen Sie sich allen Ernstes von diesem
unberechenbaren Erdogan in einen Krieg mit Russland hineinziehen lassen, nur
weil er offenbar der Überzeugung ist, dass die Al-Nusra-Front und andere
islamistische Terroristen in Syrien Unterstützung brauchen? Das ist doch eine
völlig absurde Politik. Das kann man doch nicht verantworten.
(Beifall bei der LINKEN)
Nicht viel besser steht es um Ihren zweiten Verbündeten, die saudische
Kopf-ab-Diktatur, bei der Herr Steinmeier auf Festivals auftritt und für die
Herr Gabriel unverdrossen Waffenexporte genehmigt,
(Zurufe von Abgeordneten der SPD: Oh!)
obwohl die Saudis Menschenrechte mit Füßen treten,
(Volker Kauder (CDU/CSU): Das ist ja eine Unverschämtheit!)
obwohl sie im Jemen einen Krieg angezettelt haben und in Syrien ebenfalls
islamistische Verbrecherbanden hochrüsten und finanzieren.
(Beifall bei der LINKEN)
Wer in Syrien wirklich einen Waffenstillstand will, der muss doch endlich
sämtliche Terrorbanden von der Zufuhr mit Waffen abschneiden.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)
Länder, die diese Terroristen unterstützen, die gehören nicht umworben und
hofiert, sondern die gehören unter Druck gesetzt.
(Beifall bei der LINKEN)
Das Erste, was Sie machen müssen, wenn Sie die Flüchtlingszahlen wirklich
reduzieren wollen, ist: Hören Sie endlich auf - dazu fordern wir Sie auf -,
weiter Waffen in diese Krisenregion zu liefern! Es gibt in Syrien inzwischen
unübersichtlich viele Kriegsparteien. Aber es gibt so gut wie keine einzige
Partei, die nicht mit deutschen Waffen kämpft. Selbst der IS tut das inzwischen.
Das ist doch eine Schande.
(Beifall bei der LINKEN - Volker Kauder (CDU/CSU): Die
Kalaschnikow ist die meistbenutzte Waffe! Damit mal die Wahrheit gesagt wird! -
Gegenruf der Abg. Heike Hänsel (DIE LINKE))
Sie haben es angesprochen: Natürlich muss auch die Situation in den
Flüchtlingscamps dringend verbessert werden. Wir hoffen sehr, dass die Zusagen,
die gemacht wurden, tatsächlich eingehalten werden.
Noch eine Bitte, Frau Merkel: Werben Sie auf dem morgigen EU-Gipfel für eine an
europäischen Interessen ausgerichtete Außenpolitik. Es gehört zu den
europäischen Interessen, mit Russland wieder ein gutes Verhältnis zu haben statt
eine immer weiter eskalierende Konfrontation. All das wären realistische
Schritte zur Lösung der Probleme.
(Beifall bei der LINKEN)
Voraussetzung dafür aber wäre natürlich, dass diese Regierung überhaupt wieder
handlungsfähig wird, statt den Hauptteil ihrer Kraft und ihrer Zeit mit internem
Gezänk und internen Wadenbeißereien zu vergeuden. 81 Prozent der Menschen haben
inzwischen das Gefühl, dass diese Regierung die Probleme nicht mehr im Griff
hat. Selbst eine Ihnen freundlich gesonnene Zeitung wie Die Welt konstatiert,
dass die Bundesregierung in Europa noch nie so isoliert war wie gegenwärtig.
Deswegen gilt - damit komme ich zum Schluss -:
(Volker Kauder (CDU/CSU): Gott sei Dank!)
Sie können eben nicht beides haben: eine neoliberale Politik der sozialen Kälte
in Europa und ein solidarisches Miteinander. Das geht nicht zusammen. Der
Neoliberalismus zerstört anteilnehmendes und mitfühlendes Handeln.
(Beifall bei der LINKEN - Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU):
Bislang hat nur der Sozialismus gestört!)
Wenn Sie solidarische Lösungen wollen, dann ändern Sie die grundsätzliche
Ausrichtung Ihrer Politik. Nur dann hat Europa vielleicht irgendwann wieder eine
Chance.