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09.05.2015 10.00
"Wir leben in einer kannibalischen Weltordnung"
Jean Ziegler: "Gerechtigkeit ist eine Frage des Gewissens" - Seit Jahrzehnten bekämpft der Schweizer Soziologe Jean Ziegler die Finanzwirtschaft, internationale Konzerne und die Folgen der Globalisierung. In seinem neuen Buch "Ändere die Welt!" zieht er Bilanz: Es gäbe genügend Ressourcen für alle. Dass dennoch jeder neunte Mensch auf der Welt Hunger leidet, dass es dennoch große Armut und steigende Ungleichheit gibt, ist für ihn eine Schande. FORMAT Redakteurin Martina Bachler hat den kritischen Weltbeobachter interviewt. [Quelle: format.at] JWD


Format: Herr Ziegler, Ihr neues Buch, "Ändere die Welt!“, ist auch eine Zwischenbilanz Ihrer Arbeit. Wie fällt diese aus?

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Jean Ziegler 2011 |  Quelle: Wikipedia (verlinkt)  

Jean Ziegler: Sehr beunruhigend. Wir leben in einer kannibalischen Weltordnung, die sich durch zwei Dinge auszeichnet: eine unglaublichen Monopolisierung von politischer, ökonomischer und ideologischer Macht in den Händen weniger Oligarchen, die niemand kontrolliert, und enorme Ungleichheit unter den Menschen. Vergangenes Jahr haben die 500 größten Konzerne 52 Prozent des Weltbruttosozialprodukts kontrolliert. Sie haben eine Macht, wie sie kein Kaiser, kein König und kein Papst je hatten. Weder Nationalstaaten noch internationale Institutionen können sie kontrollieren. Sie sind unglaublich vital.

Format: Das sind aus Ihrer Sicht also die Bösen?

Ziegler: Es geht nicht um Gut und Böse, es ist ein System der strukturellen Gewalt. Ich kenne etwa Peter Brabeck, den Präsidenten von Nestlé, dem größten Lebensmittelkonzern der Welt. Er ist ein hochanständiger Mann. Aber wenn er den Shareholder-Value, die Rendite auf das Kapital, nicht jedes Jahr um soundsoviel Prozent hinaufjagt, ist er nach drei Monaten nicht mehr der Präsident von Nestlé.

Format: Das klingt fast versöhnlich.

Ziegler: Keineswegs! Es herrscht gnadenlose Konkurrenz im Raubtierkapitalismus. Das hat nichts mit individueller Motivationsstruktur zu tun. Wir leben unter der Weltdiktatur der Oligarchien des globalisierten Finanzkapitals. Dem Oxfam-Bericht 2014 nach besitzt ein Prozent der Menschen so viel wie die 99 übrigen zusammen. Gleichzeitig steigen in der südlichen Hemisphäre, wo zwei Drittel der Weltbevölkerung leben, die Leichenberge. Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren, sagt die FAO (UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft, Anm.). Sie sagt auch, dass die Landwirtschaft weltweit heute zwölf Milliarden Menschen, also fast das Doppelte der Weltbevölkerung, ernähren könnte.

[...]

Format: Geht es hier um Verteilung?

Ziegler: Es eine Frage des Gewissens. Es gibt bei der Nahrung keinen objektiven Mangel mehr, das war vor Generationen anders. Heute wird ein Kind, das an Hunger stirbt, ermordet. Diese absurde Weltordnung ist von Menschen gemacht, also kann sie von Menschen gestürzt werden.

Format: Das geschieht aber nicht. Warum nicht?

Ziegler: Weil wir kollektiv glauben, dass diese Ordnung zwar für viele Menschen schrecklich ist, aber "Natugesetzen“ gehorcht. Die neoliberale Wahnidee behauptet, dass die Finanzmärkte autonom entscheiden. Diese sanktionieren die Staaten, wenn ihnen ein Gesetz nicht passt. Abwanderungen von Industrien, Flucht des Kapitals sind die Sanktionsmittel. Viele Menschen glauben, dass sie dagegen keine Macht haben. Diese Entfremdung schreitet unglaublich schnell voran. Die Menschen fühlen sich ohnmächtig. [...]

Weiterlesen im vollständigen Originaltext bei ' format.at ' ..hier

Info:
Jean Ziegler, 80, stammt aus Thun in der Deutschschweiz, lange war er für die Sozialdemokratische Partei im Schweizer Nationalrat. Sein Heimatland und dessen Banken standen früh im Mittelpunkt seiner Kritik. Ab 2000 war der durchaus umstrittene Soziologie-Professor UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Seit 2008 ist er im Beratenden Ausschuss des UN-Menschenrechtsrats. Dass er von Muammar al-Gaddafi, dem früheren Machthaber Libyens, einen Menschenrechtspreis entgegengenommen hatte, stieß auf internationale Kritik. Der Globalisierungskritiker veröffentlichte zahlreiche Bücher. In seinem neuen Buch "Ändere die Welt!“ analysiert er soziologisch und, wie üblich, mit Verve, warum sich weder am westlichen Wirtschaftssystem noch an Korruption und Unterdrückung in Entwicklungsländern viel ändert. Seine Hoffnung setzt er auf eine erstarkende globale Zivilgesellschaft [Quelle: format.at]


 
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